„Irgendwie Anders“ – leben mit Behinderung in Indien

Indien ist ein Land, dass sich in einerseits durch Vielfalt und Toleranz auszeichnet, aber auch ein Land in dem Menschen mit einer Behinderung vielfach ausgegrenzt werden und nur sehr geringe Chancen auf eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erhalten.

Während unserer zwei monatigen Indienreise ist mir vor allem eines aufgefallen, man sieht nur sehr selten Menschen mit Behinderung. Und glaubt mir ich weiss wovon ich schreibe. Einerseits habe ich Sonderpädagogik studiert und bereits aus rein beruflichem Interesse ein geschärftes Auge dafür Menschen mit Beeinträchtigungen in meiner Umgebung wahrzunehmen und andererseits waren wir in den letzten Wochen vielerorts, auf dem Land und in den Städten, im engen Kontakt mit der Bevölkerung und haben uns nicht etwa in Hotelkomplexen oder typischen Touristenorten verschanzt.

Natürlich sind uns Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung begegnet, letztere insbesondere an Orten wo sich viele Touristen aufhalten, um dort zu betteln.

Welche Chancen haben Menschen mit Beeinträchtigung in Indien?

Das Betteln ist ein, aber nicht der einzige Weg für Menschen mit Beeinträchtigung sich ein wenig Geld zum Leben zu „erarbeiten“, den auch Menschen mit Beeinträchtigung übernehmen mit unter kleinere Aufgaben und Tätigkeiten. Insbesondere in ländlich geprägten Gebieten mit einer hohen Dichte an Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft packt in der Regel jeder mit an. Die Arbeit von Menschen mit einer Beeinträchtigung wird jedoch häufig nur sehr gering oder gar nicht bezahlt und wird in vielen Fällen nicht anerkannt.

Generell gilt: Menschen mit Beeinträchtigung werden zuletzt eingestellt und zuerst entlassen.

Die Perspektiven für Menschen die bereits mit einer Beeinträchtigung zur Welt kommen oder diese als Ursache von Krankheit, mangelnder gesundheitlicher Versorgung (z.B. Polio, Unfälle) oder Armut in jungen Jahren erwerben ist besonders prekär. Wenn ein Kind mit Behinderung nicht bereits vor dem Jugendalter verstirbt ist der Weg in Armut, Ausgrenzung und Hilflosigkeit meist vorprogrammiert.

Hinzu kommt im Fall von Kindern und Jugendlichen zudem, das viele Familien sich für ihre Angehörigen mit Beeinträchtigung schämen und diese zu Hause verstecken.

Nicht selten wissen Eltern auf dem Land/ aus ärmeren Schichten nicht wohin mit ihren Kindern, während sie zur Arbeit müssen und binden sperren dieses aus der Not heraus zu Hause ein.
Normale Schulen bieten oftmals keine Betreuung für Schüler mit Beeinträchtigung an und viele Eltern wissen sich nicht anders zu helfen, wenn es darum geht ihre Kinder vor den Gefahren der Selbstverletzung zu schützen.

Die Nachbarn fragen? In einem Land, in dem Kinder mit Beeinträchtigung immernoch als eine Strafe der Götter angesehen werden? Wohl kaum.

Ich stelle es mir furchtbar vor in eine Situation gedrängt zu sein, in der ich mein eigenes Kind zu Hause einsperren oder anbinden muss, nur um genügend Geld zu verdienen um mich und mein Kind ernähren zu können.

Abhilfe schaffen hier eigentlich nur spezielle Schulen oder Heime in denen Kinder und Jugendlichen eine auf ihre Bedürfnisse angepasst Versorgung (Physiotherapie, Medikation, technische Hilfsmittel), Bildung und Betreuung erhalten.

Da Menschen mit Beeinträchtigung in Indien mitunter diskriminiert, abgeschoben und als wertlos erachtet werden, gibt es entsprechend der Zahl an benötigten Schul- und Heimplätzen nur wenige solcher Einrichtungen und nicht alle können eine adäquate Versorgung und Betreuung gewährleisten.

Bildung – ein erster Schritt zu einem selbstbestimmten Leben

Dennoch gibt es diese dringend benötigten Schulen und eine davon durften wir in Bilaspur besuchen:

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Justice Tankha Memorial Rotary School For Special Children (JTMR)

Eine kleine private zu 100% aus Spendengeldern finanzierte sonderpädagogische Schule, in der sowohl SchülerInnen mit kognitiver Beeinträchtigung, als auch gehörlose SchülerInnen unterrichtet werden.
Die Aufnahme von SchülernInnen mit körperlicher Beeinträchtigung ist bisher auf Grund der Räumlichkeiten noch nicht möglich, soll aber im Zuge eines Neubaus des Schulgeländes verwirklicht werden.

Auch ohne fließend Telugu oder Gebärdensprache sprechen zu können, haben wir uns während unseres Besuches einen Eindruck von der Schule und den Unterrichtsmethoden machen können. Die Klassen sind etwas größer als in einer Schwerpunktschule in Deutschland, aber dafür werden alle Klassen in der Regel von zwei Lehrkräften betreut und die eingesetzten Lernmaterialien unterscheiden sich ebenfalls nicht im Wesentlichen von dem, was auch ich im Unterricht eingesetzt habe.

Insgesamt schien die JTMR uns eine ganz gewöhnliche Schwerpunktschule für die Bereiche Lernen, Geistige Entwicklung und Gehörlose zu sein. Ganz gewöhnlich? Na ja vielleicht nicht ganz, denn in Indien sind solche Schulen immernoch eine Seltenheit.

Neben dem „normalen“ Unterricht erhalten die Schüler je nach Bedarf therapeutische Anwendungen (u.a. Physio-, Sprach- und Ergotherapie) und psychologische Betreuung.

Ein weitere Kernpunkt des Lehrplan besteht aus berufsbildenden Fächern, in denen unter anderem Tätigkeiten wie Nähen, Sticken, Kerzen ziehen, Zeichnen, Drucken, Computerfähigkeiten und die Herstellung von Schmuck und Bilderrahmen erlernt wird.

Neben dieser intensiven Betreuung der SchülerInnen werde auch Einzel- und Gruppenberatungen für Eltern und Angehörige angeboten, welche von professionellen Psychologen angeboten werden.

Ein nahtloser Übergang zwischen Schule und Beruf und kann die JTMR bisher noch nicht gewährleisten, da die SchülerInnen dort nur bis zu dem 17. Lebensjahr beschult werden können, aber erst ab dem 18. Lebensjahr einen Job antreten dürfen.

Der Grund hierfür ist, sofern wir den Vorsitzenden des Schulvorstandes nicht falsch verstanden haben, darin zu finden das SchülerInnen von staatlichen Schulen nach Beendigung des letztens Schuljahres zunächst eine Lehre beginnen, bevor sie mit Vollendung des 18. Lebensjahrs offiziell arbeiten dürfen.
Für die SchülerInnen der JTMR, besteht leider oftmals keine Möglichkeit eine Ausbildung zu beginnen, so dass bisher nur wenige SchülerInnen eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ergreifen.

(Ich kann für diese Angaben keine Gewähr übernehmen. Vielleicht habe ich etwas falsch verstanden, vielleicht ist dies auch eine spezifische nur für den Staat Telanga gelten Regelung, ich bin mir nicht 100% sicher, kann es mir aber sehr gut vorstellen. In Indien ist so gut wie nichts unmöglich und bürokratische Hürden nehmen einem oft jeden Handlungsspielraum.)

Nichtsdestotrotz gibt es SchülerInnen der JTMR die trotz ihrer geistigen Beeinträchtigung eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt erhalten und in einem der kleineren lokalen Betrieben eine Arbeit ausüben.

Möglich wird dies nur durch die Arbeit von sonderpädagogischen Schulen, die neben einer schulischen Ausbildung ihrer SchülerInnen auch eine aktive Öffentlichkeitsarbeit verfolgen, Vorurteile abbauen und somit Unwissenheit eliminieren.

Zahlen und Fakten?

Genaue Zahlen zu der Situation von Menschen mit Beeinträchtigung in Indien oder zur Anzahl sonderpädagogischer Schulen habe ich im Internet keine gefunden.

Aber wer lange genug durch Indien gereist ist und auch nur den Bruchteil einer Vorstellung davon erlangt, wie riesig dieses Land ist und wie viele Menschen hier leben der wird mir zu stimmen, wenn ich sage:

„Ein so gewaltiges Land wie Indien, kann unter den derzeit vorherrschenden Infrastrukturbedingungen kaum verlässlich Aussagen zu der Anzahl der im Land lebenden Menschen mit Beeinträchtigung treffen. Jedwede Form von statistischer Erfassung dürfte den tatsächlichen Zahlen weit unterlegen sein.“

Man beachte nur das Beeinträchtigungen des Sehens, Hörens oder des Bewegungsapparates, welche bei uns bereits mit einer Brille, einem Hörgerät oder dem Besuch eines Chiropraktikers behoben wären, hier zu einschneidenden Veränderungen des täglichen Lebens und zur Arbeitsunfähigkeit führen können, in Folge dessen diese Menschen ebenfalls in die „Kategorie“ Menschen mit Beeinträchtigung/Behinderung fallen.

Vor allem in den sozialbenachteiligten Gesellschaftsschichten haben wir so gut wie keine Brille bemerkt, dafür aber umso mehr alte Frauen deren Rücken soweit gekrümmt war, dass ihre Körperhaltung einem rechten Winkel glich.
Ich vermute, dass für viele Menschen bereits eine angemessene orthopädische Versorgung, sowie die Unterstützung durch technische Hilfsmittel eine enorme Verbesserung ihrer Lebensbedingungen darstellen würde.

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Wenn ich mir nun Rückblickend die letzten zwei Monate meiner Indienreise durch den Kopf gehen lassen, merke ich erst, was für einer Mamutaufgabe dieses Land gegenübersteht.

Wie immer möchte ich die Situation weder verharmlosen noch beschönigen, aber wir dürfen Indien nicht mit Deutschland vergleichen und erwarten das sich in den nächsten Jahren aus dem Nichts heraus ein ähnliches ausgebautes und ausgeprägtes Netzwerk der Integration von Menschen mit (geistiger und schwerer körperlicher) Beeinträchtigung entwickelt, wie wir es von Deutschland kennen.
Darüber hinaus gibt es auch bei uns noch viel Handlungsbedarf zum Thema Inklusion. Man Bedenke zum Beispiel das erst letztes Jahr der „Schwer in Ordnung Ausweis“ eingeführt wurde.

Was für manche vielleicht nur eine kleine nette Anekdote in den Abendnachrichten war, war für viele Menschen mit einem Schwerbehindertenausweis ein erster Schritt in Richtung gleichberechtigte Anerkennung.

Nun aber genug von düsteren Gedanken. Projekte wie die Justice Tankha Memorial Rotary School for Special Children setzen erste wichtige Impulse in die richtige Richtung. Sie schaffen ein Bewusstsein für das Potenzial von Menschen und insbesondere Kindern mit Beeinträchtigungen und schaffen es über Informationsveranstaltungen auch solche Familien zu erreichen, die keine direkte Angehörige mit einer Beeinträchtigung haben.

Denn erst wenn eine Gesellschaft offen miteinander lebt und alle ihre Mitglieder am öffentlichen Leben teilhaben lässt, kann ein Bewusstsein für die Bedeutung und Tragkraft jedes einzelnen Individuums geschaffen werden.

Wenn ihr euch mit der JTMR in Verbindung setzen wollt, entweder um sie zu besuchen, oder um sie finanziell zu unterstützen, dann solltet ihr euch am besten per E-mail melden:

jtmrspecialschool@ymail.com

Im Anschluss an unseren Besuch habe ich mich noch ein wenig mit der Direktorin über Inklusion und deutsche Schwehrpunktschulen unterhalten, in dessen Folge sich ein sehr interessantes fachliches Gespräch ergeben hat, dessen Wiedergabe jedoch den Rahmen dieses Beitrags sprengen würden. Nur so viel dazu, das Konzept der Inklusion und der flächendeckenden staatlichen Finanzierung zur Beschulung von SchülerInnen mit Beeinträchtigung hat sie sehr interessiert.

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Autor: Froilein Lumi

Lumi - wie der finnische Schnee mit einem Gespür für verrückte Abenteuerurlaube, kulinarische Be- & Absonderheiten und einem Hang zu Reisen in die nördlichen Länder dieser Welt.

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